... zu Fritz Stier "Floating"

Zauberbergatmosphäre muss geherrscht haben, vor gut 100 Jahren, als der heutige Bellevue-Saal in Wiesbaden noch Speisesaal eines noblen Luxushotels war. Elegante Damen in taftraschelnden Roben, eilfertige Serviermädchen und vornehme Oberkellner belebten die Szenerie. Man kann die Belle Epoque dieser illusteren Räumlichkeit heute noch ahnen. Seit einigen Jahren ist der Saal Ausstellungsraum des Kunstverein Bellevuesaal. Fritz Stier verwandelt nun den Raum in ein spirituelles Erlebnisfeld. Ergänzt durch überlebensgroße Roben aus glänzendweissem Steppstoff von Angeli K. , seiner künstlerischen Mitstreiterin, lässt er Menschen nahezu rundum im Raum behutsam fallend schweben. An der oberen Deckenkante tauchen sie auf, um nach ihrem sanften Weg nach unten, kurz vor der Berührung am Boden, langsam auszublenden bzw. sich aufzulösen. Wie bei engelhaften Erscheinungen bleiben einzig Erinnerungsspuren, wie es bei den vergangenen „Menschen im Hotel“ wohl ist. Aber in in diesem Fall schweben in steter Wiederkehr neue Menschen herab. Ihre rudernden Bewegungen werden zu Metaphern intuitiver Orientierung, zu Symbolen des Verlorenseins und zugleich der Geborgenheit im Zustand der Suche. Letztlich zu Allegorien von Vergänglichkeit. „Floating Cherubim“ nennt der Künstler seine Videoarbeit. Das heißt übersetzt so ungefähr wie „schwebende Engel“, wobei der Begriff „floating“ eher der aktuellen Jugendsprache ent- nommen scheint, wo man den „Flow“ als angenehmes, fließendes Eintauchen in Musik, z.B. bei Chillouts, kennt. Damit entschärft der  Künstler einen möglichen spirituellen Pathos und transformiert die Arbeit couragiert ins Hier und Jetzt. Fritz Stier nutzt sozusagen die Techniken der Realzeit, die alles – den nahen Alltag, wie die fernsten Ereignisse – unmittelbar verbinden.


Wie er mir in einem Vorgespräch erzählte, sind die herabsegelnden Figuren für ihn auch Ausdruck von virtueller Realität. Und in der Tat, diese schwebend taumelden Gestalten muten an, als seien sie direkt der simulierten Wirklichkeit der Videospiele entsprungen. Damit vereinigt seine Kunst auf spannende Art und Weise Spiritualität mit Virtualität, beides Wirklichkeitsebenen, die sich parallel zur tatsächlichen Realität verhalten, sie aber auch gleichzeitig hinterfragen. Konsequenterweise tragen seine Protagonisten auch Alltagskleidung von heute. Jeans, Kapuzenshirt und Turnschuhe als Dresscode für Cherubim, jene Wesen, die halb Mensch, halb Engel, als Mittler zwischen Himmel und Erde fungieren. Zum ersten Mal tauchen sie in der Genesis auf, wo sie nach dem Sündenfall und der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden von Gott als Wächter vor dem Zugang zum Paradies aufgestellt wurden. Die Beschreibung im Buch Ezechiel (1,4-19 EU) zeigt sie als menschenähnliche Wesen, die einen himmlischen Wagen (Merkaba) begleiten.


Darüber hinaus erinnert die Videoarbeit im Kunsterein Belle- 37 vuesaal auch an die Aussagen des zeitgenössischen Philosophen Paul Virilio, der, wie kein anderer Technik, Physik und Metaphysik zu einer gemeinsamen Ästhetik der Wahrnehmung verschränkt. »Die Menschheit muss sich wieder ihrer Endlichkeit bewusst werden, dazu braucht sie Glauben, Religion, jedenfalls Metaphysik, denn nur der Blick für das Transzendente kann die Hoffnung aufrechterhalten“, wie er in einem seiner Essays formuliert. Natürlich verweist die Szenerie auch auf eine Traumwirklichkeit, wie wir sie alle, vielleicht sogar so, wie hier gezeigt, kennen. Schweben und Fliegen stellen letztendlich sogar eines der am häufigsten genannten positiven Traumerfahrungen dar. Wie weit die Deutungen von Sexualität über Freiheitsgefühle bis zur Glücksverheißung, hier greifen, sei jedoch jedem selbst anheim gegeben.


Mögliche Interpretationen von Fritz Stier´s „Floating Cherubims“ werden so für jeden Betrachter zu einer eigenen kognitiven Orientierungskarte zusammengesetzt, die es ermöglicht, einen jeweils ganz spezifischen Weg durch das Chaos der divergierenden Weltbilder zu finden. Es lohnt sich jedenfalls sehr, sich mit dieser intelligenten Kunst, auf den Weg zu machen.