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... zu Daydreamers and Sleepwalkers (Kunstverein Schwetzingen)
Der Traum vom Fliegen
Der Traum vom Fliegen ist eine sehr alte Sehnsucht des Menschen, der schon immer Vögel, Libellen, Schmetterlinge, ja selbst die hässlichen Fledermäuse um ihren Lebensraum beneidet hat. Seit der Antike beschäftigen sich Künstler wie Ingenieure mit diesem Traum. Man erinnere sich an Dädalus, der sich aus Vogelfedern und Kerzenwachs Flügel schuf, mit denen er und sein Sohn Ikarus dem Labyrinth von Knossos entfliehen konnte. So erzählt es Ovid in seinen 'Metamorphosen'. Viele andere sagenhafte Himmelsstürmer ließen sich anführen. Heute ist das Fliegen technisch gelöst, und jeder Mensch kann gefahrlos zum Himmel und der Sonne aufsteigen. Doch der Traum vom Fliegen ist damit noch lange nicht ausgeträumt.
Die Schwerkraft des Planeten Erde ist der große Spaßverderber. Gerade junge Leute versuchen diese Erdenschwere aufzuheben, lieben das Rad, mit dem sie rollen und rasen können, Skier, Surfbretter und Skateboards, mit denen sie gleiten und die Trägheit der Masse überwinden können. Andere suchen beim Bungee-Springen den freien Fall, nicht zuletzt um körpereigene Endorphine wie Rauschgift zu erleben. Die Free-Climber riskieren ihr junges Leben an steilen Bergenwänden und wissen nichts von einem Ikarus. Besonders beeindruckend sind die Trasseure, die wie akrobatische Affen durch den Großstadtdschungel rennen und springen und so die Bürger schrecken.
Fritz Stier zeigt in seinen Bildern diese jungen Sportler, meist Protagonisten amerikanischer Fun-Sportarten, die noch nicht olympisch sind. Seltener sind klassische Turmspringer, vielleicht auch Trampolinspringer oder Jungs, die eine Menschenpyramide bauen, wie sie in Katalonien oder im Zirkus seit Jahrhunderten Tradition haben. Andere Bilder zeigen Mädchen und Jungs, die sich beim Tanzen nur emotional vom Boden abheben, wie auch Träumer, die nur in ihren Phantasien schweben. Fritz Stier hält diese meist jungen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes fest, bannt sie in einem Augenblick, indem er Fotos oder Video-Stills auswählt und malerisch überarbeitet. So entsteht eine Art Flying-Circus, der zwar auf Papier oder Hartschaumplatte (Forex) fixiert ist und an der Wand hängt, doch eigentlich nicht gebändigt werden kann.
Was interessiert den Künstler an diesem Thema? Ist es die Jugend, die man als reifer Mann einfach um ihre Bewegungsfreiheit und Leichtigkeit beneidet? Ist es eine Sehnsucht nach ewiger Jugend oder einfach nur der alte Traum vom Fliegen? Vielleicht hilft ein Blick in die
Kunstgeschichte, diese Frage zu beantworten. Vergleichbare Körperstudien mit extremen Verkürzungen und dramatisch anmutenden Posen finden sich zum Beispiel in der religiösen Malerei seit der Renaissance. Hier haben Maler bei Deckengemälden ähnliche Perspektiven auf den menschlichen Körper entwickelt, wie zum Beispiel ein Mantegna oder Michelangelo vor gut 500 Jahren. Meist waren es himmlische Szenen mit Engeln, wie zum Beispiel bei dem Thema Engelsturz, wo Gott die abtrünnigen Engel rund um Luzifer aus dem Himmel verstößt. Die kurdischen Jesiden übrigens glauben an den gestürzten Engel Luzifer als guten Engel Melek Taus, der die Welt und die Menschen beschützt, weshalb man Jesiden fälschlicherweise als Teufelsanbeter beschimpft hat.
Andere Motive der Kunstgeschichte ließen sich anführen, wie zum Beispiel die Himmelfahrten von Maria und Christus oder das Jüngste Gericht - hier sind es die Seelen der Menschen, die oft in dramatischen Posen zwischen Himmel und Hölle schweben. All das hatte Fritz Stier bei seiner Kunst nicht unbedingt im Sinn, doch zeigt ein Vergleich mit seinen älteren Videoinstallationen, dass ihm der freie Fall nicht nur ein physikalisches, sondern auch ein spirituelles Erlebnis bedeutet. Bei der Arbeit "Floating Cherubim" von 2007 schweben und fallen die Menschen wie Engel im schwarzen Nichts. 2004 zeigte die Arbeit "In Between" für den Kunstverein Worms Menschen an der Reckstange, die nach einiger Zeit die Stange losließen und ins Bodenlose fielen, projiziert auf große Leinwände unter dem romanischen Gewölbe der Andreaskirche in Worms. Auch auf der Fassade der Kunsthalle Mannheim war diese Arbeit 2012 als Projektion zu sehen.
Dieser Vergleich lässt auch die übermalten Fotos und Videostills von Fritz Stier in einem durchaus bedeutungsvollen Licht erscheinen. Der Künstler interessiert sich seit Jahren weniger für den Körper des Menschen, als vielmehr für eine transzendente Körperlosigkeit. Diese kann man erleben, wenn man allen sicheren Halt los lässt, sich auch innerlich fallen lässt und so mehr als nur die physische Schwerkraft überwindet. In dieser Körperlosigkeit erlebt man eine Befreiung des Geistes, eine Entrückung aus dem Diesseits mit einer Andeutung des Jenseits. Ober dieser freie Fall im Himmel oder in der Hölle landet, bleibt dabei freilich ungewiss. Junge Leute wollen davon nicht unbedingt etwas wissen, doch fungieren sie als Symbole für die Vergänglichkeit des Lebens und die Allgegenwart des Todes. Diesen kann man körperlich nicht besiegen, aber vielleicht mit einem befreiten Geist und einem Glauben an ein Leben ohne Körper.