„Denken heißt überschreiten” schrieb Ernst Bloch bereits 1959 und sowohl im Denken als auch im Überschreiten war Fritz Stier ganz offensichtlich schon immer besonders gut. Während manch einer – so beispielsweise ich – noch behaglich in Utero schlummerte, da hat Fritz Stier schon die überregionale Szene aufgemischt. Inspiriert, oder vielleicht sollte man besser sagen ... energetisch aufgeladen, von Ideen der Fluxus-Bewegung, der Situationistischen Internationalen, der Concept Art und innovativen Werken von Wolf Vostell oder Joseph Beuys wurde der Mannheimer selbst zum Avantgardisten.
Bereits Ende der 1970er-Jahre experimentierte Fritz Stier mit den zu dieser Zeit noch eher unpopulären Kunstformen wie Performance, Video, Installation oder auch Happenings. Damals schon war das Leitmotiv in Stiers Arbeiten deutlich zu erkennen: der Mensch in seinem Menschsein – mal gefangen, mal befreit – als Ausgangspunkt aller künstlerischen Expression. Der Körper dient ihm als Medium, als ein Ausdruck des Lebens, des Leidens, des Befreiens und schließlich des sich Entfaltens.
In seinen frühen Arbeiten dominiert der wilde Rebell und Provokateur in Fritz Stier überdeutlich. Grenzen ausloten. In der Video-Performance Lichtbilder (1980) verausgabt er sich bei einem nackten Derwischtanz unter grellem Neonlicht, bis er selbst zu stürzen droht. In Seelenbluten (Performance, 1980) liefert der Künstler sich den Schreien und Schlägen des Publikums aus, provoziert die Konfrontation mit den Triggern seiner gewaltsamen Kindheitserfahrungen. 1981 findet die Performance Heilung – Verletzung statt, bei der Stier unter einem gespannten Leinen kriecht, auf das Fotografien seiner Kindheit projiziert werden. Beim Versuch die Projektionen – die Erinnerungen – wegzubrennen, geht der Künstler wahrhaftig selbst in Flammen auf, muss gelöscht werden und büßt einen Großteil seiner dunklen Locken ein. Heftig, aber ein Befreiungsschlag. Verstörend, aber schon da ist die reinigende Katharsis, die Stiers Arbeiten bei den Rezipient*innen hinterlassen, zu spüren. Durch die Teilhabe an seinen Experimenten werden wir angeregt, ja provoziert, uns auch mit den eigenen Emotionen und Belastungen zu konfrontieren und genau das ist offenbar notwendig zum Aktivieren neuer Lebensenergien. Eine solche innere Haltung offenbart sich in Stiers kritischem Selbstporträt Cogito ergo sum (Videotape, 1980), bei dem sich der Künstler René Descartes philosophische Erkenntnis nicht nur auf, sondern hinter die Stirn – in den Geist – zu schreiben scheint.
In diesen frühen, besonders drastischen Arbeiten spiegelt sich nicht nur die künstlerische, sondern gleichsam die persönliche Weiterentwicklung. Aus Kunstschaffen wird Mensch werden. Aus Mensch werden wird Kunstschaffen. Erlebtes wird verarbeitet, hinter sich gelassen, um daraus etwas Neues zu entfalten. Ein Prozess, von dem jeder einzelne Mensch nur profitieren kann.
Nicht nur mit diesen künstlerischen Arbeiten sorgte Fritz Stier für Aufsehen, auch seine Aktionen und Projekte sprengten die Grenzen des bis dato im Mannheimer Stadtraum Denkbaren. Wo andere noch klönen: „Ja, da müsste mal jemand …“, da hat Stier bereits ein Projekt ins Leben gerufen. Wo andere seufzen: „Ja, das ist dann halt so …“, da hat ein Artplayer namens Stier schon eine Aktion auf die Beine gestellt. Damals wie heute gibt er sich mit Missständen nicht zufrieden. Mit sozialem, gesellschaftlichem Engagement und vor allem ausgeprägt kreativem Potenzial hat dieser Mannheimer die regionale Kunst- und Independentszene um einiges aufregender gemacht: Schon in den 80ern organisierte er etwa das Festival für zeitgenössische Kunst „Kunst in Aktion“ (1985) oder das inzwischen legendäre Undergroundfestival (1987) in der Mannheimer Borelligrotte.
Zwei Dinge muss ich hier abschließend unbedingt noch loswerden: 1. Danke Fritz! 2. So sehr ich mir manchmal wünsche, doch noch ein paar weniger graue Haare zu haben und so oft ich früher sinnlos in der Borelligrotte versackt bin, ich würde wirklich einiges dafür geben, Fritz Stiers „Abenteuer unter Tage“ selbst miterlebt zu haben