... zu Fritz Stier

A lot of ghosts in a lot of houses / Look over there! A dry ice factory!
Good place to get some thinking done / (Talking Heads: Cities)

Zwei nackte Menschen sind an den Fußknöcheln gebunden und kopfunter aufgehängt. Wie Schlachtvieh drehen sie
sich langsam gegenläufig. Was Menschen Menschen antun, ob im täglichen Leben, im Krieg oder in der Beziehung oder
was Menschen scheinbar zufällig zustößt, illustriert zunächst immer die Fragilität der menschlichen Existenz („Rotes Rauschen“).
Dabei bleiben die Arbeiten jedoch nicht stehen. Das Dasein als Ganzes, Unteilbares, ist das Thema, Wechsel
und Brüche ebenso wie Kontinuitäten. Daraus resultiert eine dialektische Weltsicht – das Eine bedingt das Andere. In der
Videoinstallation „In Between“ hängen Menschen in der Luft wie am Trapez in der Zirkuskuppel. Irgendwann lassen sie los
und fallen – in einer eleganten Langsamkeit, die den Gedanken an den Aufprall, der niemals erfolgt, verdrängt. Jeder von
uns ist schon einmal mitten in der Nacht hochgeschreckt, weil er im Traum ins Bodenlose gefallen ist, ein Gefühl, das dem
Körpergedächtnis angehört und das wir sofort nachvollziehen können, den Moment des Loslassens. Was für den einen die
Katastrophe schlechthin bedeutet, den Fall ins Unendliche, ist für den Anderen zwingend – das Loslassen, das Verändern der
Position, die Einsicht in den Fluss des Lebens, in dem wir nichts festzuhalten vermögen.

Fritz Stiers Videoarbeiten sind von einer verstörenden Qualität, die den Betrachter niemals unbeteiligt lassen. Es handelt
sich immer um inszenierte Vorgänge, in denen jedoch vordergründig so gut wie nichts geschieht; die Zeit wird gedehnt,
jede noch so kleine Bewegung festgehalten, offenbar Unspektakuläres wird zum Zentrum der Darstellung. Traum- oder oft
eher Alptraumsequenzen werden ins Bild umgesetzt und wie im Traum bewegt sich die Wahrnehmung aufs Äußerste geschärft
wie durch eine in Zeitlupe versetzte zähe Flüssigkeit. Das Medium Video wird von Stier gezielt als Medium mit eigenem
Zeitablauf und größtmöglicher Vermittlung von Wirklichkeitssimulation genutzt. Die Fokussierung und Konzentration
auf ein aller Zutaten beraubtes Bild schärft die Wahrnehmung zusätzlich.

Aus der Physik kennen wir verschiedene Aggregatzustände von Materie. Die Übergänge vom einen zum anderen erfolgt
durch plötzliche, qualitative Sprünge. Eis wird oberhalb etwa 4° flüssig, oberhalb etwa 100° gasförmig. Fritz Stier interessiert
sich für solche Veränderungen, die er auf eine menschliche Ebene projiziert. Träumen und Wachen sind zwei solcher Zustände,
im übertragenen Sinn auch das Erwachen aus einer Lethargie etwa, die das Leben zu lähmen droht. Wir alle erleben
immer wieder radikale Veränderungen in unserem Leben, manchmal von uns selbst ausgelöst, dann wieder durch äußere
Einflüsse bewirkt. Indem der Künstler den Mikrokosmos solcher Zustände und ihrer Veränderung beobachtet und dokumentiert,
schärft er unseren Blick für das Wesentliche im Leben – das Leben selbst in all seinen Ausdrucksformen und Unwägbarkeiten.
Seine Arbeiten feiern das Wunder des Lebens, berühren zentrale Schnittstellen im Leben eines Jeden.

Had a love affair but it was only paper / Some rays they passed right through
(Talking Heads: Paper)

Fritz Stiers Videoarbeiten wirken auf den ersten Blick seltsam statisch – und in der Tat ist der Faktor Zeit eine wesentliche
Konstituierende seiner Werke. Der veränderte, verlangsamte Zeitablauf entrückt die dargestellte Szenerie genau so weit von
unserem Leben, dass wir eine Außenposition dazu einnehmen können, ohne den Bezug zur Wirklichkeit gänzlich zu verlieren.
Eine unmerkliche Veränderung, die qualitativ urplötzlich umspringt, steht im Zentrum der Betrachtung. Wir verfolgen den
Moment der Veränderung und wieder trifft er uns unvorbereitet. Was eben noch eingefrorene Bewegung war, ist flüssig geworden
und strebt der nächsten Verwandlung zu. Scheinbare Kleinigkeiten werden hier bedeutsam – die Welt erklärt sich in ihrem geringsten Zeitquant. Als weiteres Moment tritt der Ton zum Bild hinzu. Ob nur Rauschen oder ein Schuss – mit subtilen
Mitteln wird die Aufmerksamkeit gesteigert.
In der Arbeit „Inside – Outside“ wird das Leben auf unmerkliche Gesichtsregungen reduziert; der Weg des Sehens führt an
der Oberfläche vorbei ins Innere, in eine Versenkung, die das Wesentliche, aber auch das Unwesentliche des Seins berührt.
Der Moment des Erwachens, des Erschreckens, führt zurück an die Oberfläche und wieder zurück in einer endlosen Schleife.

Stiers Arbeit ist ein meditatives sich Nähern an eine äußere und innere Form der Existenz ohne diese trennen zu wollen.
Auch wenn Spannungsmomente ohne Zweifel eine gewichtige Rolle in den Arbeiten spielen ist ihnen dennoch eine abgeklärte
Form der Gelassenheit zu eigen, die Dinge zulässt, sie ruhig beschreibt und ein Bild des Menschen schafft, das ihn
mit sich selbst versöhnt – wenn wir das für uns zulassen.