... zu Fritz Stier "In Between"

Wir sehen drei Fahnen unter den acht Meter hohen Querstangen im Mittelschiff dieser ehemaligen Stiftskapelle, unter
dem spätromanischen Kreuzrippengewölbe. Drei Videobeamer blenden ihre Bilder auf diese Leinwände in luftiger Höhe.
Menschen sind zu sehen, die wie Turner an der Reckstange herabhängen. 12 verschiedene Menschen schweben so zwischen
Himmel und Erde, zwischen Hängen und Fallen, Halten und Loslosen - „in between“.

Meine erste Reaktion war eine Art Schwindel, eine Höhenangst und die damit verbundene Furcht herabzustürzen. Ich selbst
wollte nicht da oben hängen und in den Abgrund schauen, spüren, wie schnell meine Kraft versagt, wie schnell die Hände
der Schwerkraft nachgeben müssen. Nein, niemand von uns will ins Bodenlose stürzen, wie immer man das auch interpretieren
mag. Niemand will in die Arbeitslosigkeit, Armut oder Einsamkeit stürzen, niemand will zu früh sterben. Solche existentiellen
Gedanken vermitteln sich mit dieser Videoinstallation auf eine beängstigende Art und Weise.
Doch wir sind hier in einer ehemaligen Kirche, wo viele Tausend Menschen seit Jahrhunderten ähnliche Ängste empfunden
haben mögen und deshalb in dieser Kirche nach einem Halt, nach einer Reckstange gesucht haben. So lässt sich auch
an Himmelfahrt und Höllensturz denken, jenen Sinnbildern, die die Menschen an ihre Vergänglichkeit auf Erden erinnern.
Auch an Christus selbst lässt sich denken, der für viele Menschen ein Halt, ein Glaubensanker, eine Reckstange bedeutet,
weil gerade er am Kreuz - halb Mensch, halb Gott - zwischen Himmel und Erde schwebte, zwischen Diesseits und Jenseits -
„in between.“

Doch Fritz Stier beschäftigt sich eher mit östlichen Philosophien. Der Buddhismus (wie auch das Christentum) lehrt die
Menschen, dass man auf Erden bereits ein Seelenheil suchen muss, das Nirwana, das Jenseits, wie man es nur durch Meditation
oder Gebet erfahren kann. Der Buddhismus lehrt die Menschen loszulassen und sich von allen irdischen Anhaftungen
zu lösen, und zu verstehen, dass dieses Erdendasein nur ein Zwischenstadium bedeutet. Buddha selbst hat einst Haus
und Hof, Frau und Kind verlassen, um dem Sinn des Lebens nachzugehen. Auch Christus war eine Art östlicher Philosoph,
der die materielle Welt verachtete.
Diese religiösen oder philosophischen Gedanken, so finde ich, vertreiben die ursprüngliche Angst vorm Höllensturz, die ich
und manche von Ihnen zu Anfang empfunden haben. Es gibt - so lässt sich hoffen - noch eine andere Welt. Diese andere spirituelle Welt findet sich freilich nicht im Kaufhaus oder unter einem übervollen Weihnachtsbaum, sondern erst, wenn man
seine irdischen Anhaftungen überwindet. Nun will ich hier nicht den Pastor spielen und niemanden auffordern, Haus und
Hof, Frau und Kind zu verlassen, doch sollte man, das eigenen Leben vielleicht etwas überdenken. Diesen sehr westlichen
Materialismus und seine Konsumsucht zum Beispiel, auch die Gier nach Macht und Erfolg, die Dominanz der Vernunft und
das ausgeprägte Sicherheitsdenken, worüber ein Buddhist und auch ein wahrer Christ eher weise lächeln würden.

Die Philosophie des Ostens stellt dagegen ein Leben in Freiheit und einen genügsamen Fatalismus, der sich in jedem Augenblick dem Schicksal hingibt und das so vergängliche Erdendasein nur als einen Übergang betrachtet. Diesen Übergang
macht Fritz Stier ästhetisch deutlich, indem er jeden Sturz in Zeitlupe zeigt, mit jener magischen Sekunde zwischen den
Bewusstseinsebenen. Dazu erklingt ein asiatischer Gong, der diese Wandlung pointiert. Zwar müssen auch Buddhisten und
wahre Christen leiden und schließlich sterben, doch glaube ich, dass sie nicht so tief fallen, wie jene, die ohne Bewusstsein,
ohne Glauben, ohne Kunst in den Tag hinein leben.