zu Silent People

Ein Abend in der Jakobuskirche in Frankenthal. Es ist Mai, die Tage sind länger, die Abende heller geworden. Doch jetzt beginnt es zu dämmern. Das Licht in diesem großzügig dimensionierten, polygonal gewinkelten Kirchenraum, Teil des einzigen ökumenischen Kirchenzentrums in Rheinland-Pfalz, ist auch tagsüber gedämpft. Klinkerwände in warmem Keramikton kontrastieren mit reich reliefierten Betonträgern, die fächerförmig den Blick zum Altar lenken. Farbige Fenster tönen das Tageslicht. Sowohl im Beton wie in den Fenstern wimmelt es von Figuren.

Es gibt viel Kunst in dieser Kirche „am Pilgerpfad“, einem Zweig des historischen Jakobswegs, der, von Mainz und Worms kommend, über Oggersheim mit seiner „Schwarzen Madonna“ und Speyer nach Frankreich und weiter nach Santiago de Compostela führt. Pilger aus allen Nationen warenauf ihm unterwegs – längst bevor es den Ortsteil gab, der nach der uralten Route „Pilgerpfad“ heißt, Ende der 60er Jahre angelegt wurde und mittlerweile rund 10 000 Menschen aus den verschiedenstenHerkunftsländern beherbergt.

Der Künstler-Theologe Emil Wachter (1921-2012) hat aus dem 1974-76 von den Ludwigshafener Architekten Walter Klumpp und Ernst Kummer errichteten Bau, der 1978 mit dem Staatspreis für Architektur und Bildende Kunst des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet wurde, ein eindrucksvolles Gesamtkunstwerk gemacht: Altar, Ambo, Tabernakel, Taufstein, Kruzifix, Fenster und unzählige, schon beim Guss in den Beton geprägte Reliefs sind von ihm – eine wahre Bilderbibel mit vielen Bezügen und Ausblicken auf jüngere Vergangenheit und Gegenwart. Wenigstens der Taufstein wird von beiden Konfessionen benutzt.

Es ist nicht einfach, in einen solchermaßen durchgestalteten Raum, ohne ihm Gewalt anzutun, noch zusätzliche künstlerische Akzente einzubringen – und seien diese auch nur temporär. Fritz Stier ist dies im Rahmen des Kulturprogramms des Rheinland-Pfälzischen Kultursommers 2016 mit seiner Video-Installation „Silent People“ dennoch gelungen.

Kirchen sind Räume der Sammlung, der Flucht vor der Hektik des Alltags, Orte der Geborgenheit. Eine gewisse Abgeschlossenheit gehört zu den Kriterien ihrer architektonischen Gestaltung, aber es gehören ebenso dazu auch Elemente der Öffnung, der Einladung an alle, „die da mühselig und beladen sind“ (Mt. 11:28) – ein höchst aktuelles Thema, zu dem die Kirchen in den Kontroversen der Flüchtlingsdiskussion erfreulicherweise – im Gegensatz zu Teilen der „christlichen“ Parteien – eine klare ökumenische Position bezogen haben. Vielleicht wächst ja doch noch zusammen, was zusammengehört.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Gestalten treten aus Nischen hervor, schreiten, schweigen, erscheinen schemenhaft auf den Wänden, verharren, schauen, sitzen, sinnen, gehen weiter, verschwinden hinter Mauervorsprüngen – Menschen aller Farben, Nationen und Altersgruppen. Dicke, dünne, Männer, Frauen, Kinder. Sie kommen, verharren, schauen, gehen, kommen wieder. Wer sind sie? Wo kommen sie her? Wo gehen sie hin? Was haben sie uns zu sagen? Suchen sie den Kontakt zu uns? Können wir sie überhaupt erreichen? Uns verständigen? Können und wollen wir mit ihnen sprechen? Gehören sie zu uns? Gehören wir zu ihnen? Beim Gottesdienst, hab' ich mir sagen lassen, sind sie nicht da, da werden die Beamer ausgeschaltet – eigentlich schade.

Fritz Stier arbeitet seit Jahrzehnten mit dem Medium Video und hat sich mit seinen Arbeiten nicht nur überregional, sondern auch international einen Namen gemacht. Seine Arbeiten oszillieren eigenartig und eigenwillig im Spannungsfeld zwischen Irritation und Meditation. Es sind Arbeiten, die manchmal schwer zu ertragen sind, denn sie konfrontieren den Betrachter gnadenlos mit Situationen, in denen es um Leben und Tod geht und um die Nahtstelle dazwischen, um eine Tabuzone mithin, der wir im Alltag nur allzu gern ausweichen, die wir nach Möglichkeitauszublenden versuchen, und die uns doch einholt, und sei es in unseren Ängsten und Träumen. Denn wir wissen und werden immer wieder daran erinnert, dass unser Weg unwiderruflich genau dorthin führt, dass er dort und nirgendwo anders enden wird, und dass es kein Entkommen gibt.

Aber dann ist da, in allen Werken von Fritz Stier, doch immer wieder dieses eigentümliche Moment der Ruhe, des sich Einlassens, einer Gelassenheit, die in der Situation äußerster Ausgesetztheit, Verlassenheit und Aussichtslosigkeit als Fanal der Freiheit und der Hoffnung, der Stärke in der Schwachheit (2.Kor.12, 1-10), aufscheint.

Die Frankenthaler Arbeit „Silent People“ nähert sich nicht den Grenzen des Erträglichen. Sie nimmt Rücksicht auf den Ort, an dem sie sich befindet, für den sie eigens gefertigt wurde, auf den Ort und auf seine Besucher. Sie tritt eher beiläufig in Erscheinung, ist jedoch nicht weniger intensiv, wirkt eher leise, aber nichts desto weniger nachhaltig. Mich hat sie an die schöne Erfahrung des Propheten Elias erinnert, dem Gott sich nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer offenbart, sondern im Hauch eines sanften Lüftchens (1. Könige 19, 11-13).

Fritz Stier produziert keine religiöse Kunst – was immer das sein mag. Aber dass seine Arbeiten das Spirituelle tangieren, ist keine Frage. Gewiss spielt auch Buddhistisches herein. Und natürlich auch der Kontext, der Ort der Präsentation. An dieser Stelle seien ein paar allgemeine und auch ein paar kunsthistorische Bemerkungen eingefügt: Kunst, wenn sie diesen Namen verdient, verändert allein schon durch ihre Präsenz den Ort, an dem sie sich präsentiert – ebenso wie dieser seinerseits das Kunstwerk beeinflusst und verändert. Ein wechselseitiger Dialog entsteht dabei, der sich zum Trialog mit dem Betrachter erweitert. Kunst in öffentlichen Räumen, die nicht auf diese Bezug nimmt, bleibt bloße Dekoration. Gleichwohl kann auch diese Arbeit anderswo gezeigt werden. Sie wird dabei nicht grundlegend ihren Charakter verändern und dennoch eine andere sein, und der andere Ort wird ein anderer werden als der, der er war.

Von Fritz Stier gibt es Arbeiten, die auf Monitoren betrachtet werden können – meist handelt es sich um serielle Konzepte und fast immer um Bilder von Menschen – und so vergleichsweise unabhängig von ihrer Umgebung sind. Dieselben Arbeiten, mit Beamer in einer räumlichen Inszenierung auf Leinwände oder Wände projiziert, verändern ihren Charakter durchaus je nach dem umgebenden Ambiente. Betrachtet man im Rückblick die Entwicklung der Video-Kunst generell, so stehen am Anfang Arbeiten, die, einem Fernsehfilm vergleichbar, auf dem Monitor angesehen werden können.

Allerdings hat sich die Video-Kunst schon früh dezidiert vom erzählerischen Modus des Films abgesetzt und hat als Medium eigener Art ganz bewusst die Erwartungshaltungen des Betrachters unterlaufen – unter anderem, indem sie auf Langsamkeit setzte, sicher nicht von ungefähr in einer Zeit zunehmend forcierter Schnelligkeit von Information und Kommunikation und einer dadurch und durch die überbordende Bilderflut des omnipräsenten optischen Fast Foods hervorgerufenen visuellen Adipositas.

Das traumhaft Visionäre der Videoarbeiten von Fritz Stier verdanken diese nicht zuletzt dem vom Künstler gezielt eingesetzten Effekt besagter Langsamkeit. Stier nimmt seine Personen und ihre Bewegung mit einer High Speed Kamera auf, die jede Nuance der Bewegung präzise erfasst, lässt die so aufgenommene Bewegung dann aber in einer Langsamkeit ablaufen, die je nach Motiv irritierend, erschreckend oder auch beruhigend, magisch, traum- oder trancehaft, meditativ und mystisch anmutet. Mitunter wirken die Bilder wie Stills, wie Porträtaufnahmen, bis eine winzige Regung zeigt, dass es hier um Leben geht, um Lebenszeit, die hier gleichsam unter die Lupe, die Zeit-Lupe genommen, Bewegung, die auf dem Labortisch der Kunst gleichsam seziert wird.

Doch noch einmal zurück zum historischen Rückblick: Mit dem dissonanten Kontrast zwischen der Hardware des Monitors und dem darauf sichtbaren virtuellen Bild haben Künstler wie etwa Fabrizio Plessi oder Nam June Paik virtuos komponiert und inszeniert. In ihren „Video-Skulpturen“, in denen sich die sehr unterschiedlichen Realitätsebenen hart im Raum stießen, trieben sie das Collage-Prinzip auf eine bizarre Spitze. Erst die Entwicklung der Projektionstechnik erlaubte schließlich die entspannende, gleichsam nahtlose Verbindung beider Realitätsbereiche und damit auch die unmittelbare Kontaktaufnahme mit einem Raum und seiner formalen und inhaltlichen Eigengesetzlichkeit und Eigenart. Auch der Betrachter konnte so zum aktiven Teilnehmer der Inszenierung werden.

Fritz Stier ist bei seinen Videoarbeiten auf „Mitspieler“ angewiesen. Zwar führt er Regie, aber wie die Mitwirkenden letztlich agieren und reagieren, kann und will er ihnen nicht in allen Einzelheiten vorschreiben. Der je individuelle Charakter der Akteure bleibt unangetastet. Sie sind nicht Material, sondern Partner im künstlerischen Prozess, sie spielen nicht irgend eine Rolle, sondern bleiben sie selbst. In der Arbeit „Silent People“ aber wird auch der Betrachter zum Mitspieler. Die Erfahrung eines unbekannten und schweigenden Gegenübers, der Trennung und Zusammengehörigkeit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit über Grenzen hinweg ist Thema der Arbeit, wenngleich sicher nicht das einzige. Denn jedes wirkliche Kunstwerk ist unerschöpflich in der Fülle und Komplexität immer neu erfahrbarer Bezüge zur Lebenswelt seiner Betrachter.